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Digitalität - das Zeitalter der Vernetzung

Im Jahre 2009 rief Eric Whitacre - ein US-amerikanischer Komponist und Dirigent - den „Virtual Choir“ ins Leben. Inspiriert durch eine musikalische Interpretation eines seiner Stücke durch Melody Myers - einer Youtuberin - entwickelte sich das Projekt in den nächsten Jahren zu ungeahnter Größe:

Bei diesen Projekt nehmen sich Menschen vor ihren heimischen Geräten beim Einsingen einer Chorstimme auf. Die Videos werden zentral eingesendet und zu einem großen Chor zusammengeschnitten. Bereits der erste Durchgang des Virtual-Choir-Projektes nahmen Sängerinnen und Sänger aus über 40 Nationen teil. Der Ursprungsimpuls kam aus dem Netz, die Organisation des Projektes erfolgte über das Netz, die spätere Distribution erfolgte über das Netz. Derartige Projekte sind ohne das Netz und seine ihm innewohnenden Vernetzungsmöglichkeiten undenkbar.

Um an einem solchen Projekt teilnehmen zu können, benötigen Menschen Fähigkeiten:

  • Sie müssen Laute produzieren (Singen) und sprechen können (Artikulieren)
  • Sie müssen lesen können (in diesem Fall eine Chorpartitur)
  • Sie müssen filtern können: Wer ist dieser Eric? Lohnt sich dieses Projekt für mich?
  • Sie müssen mit digitalen Geräten umgehen können.
  • Sie müssen auf Plattformen vernetzt sein, um von einem solchen Projekt zu erfahren.

Sie benötigen demnach alle Kulturtechniken, die für die Entwicklung von Gesellschaft bisher relevant waren - und noch einige mehr. Das Zeitalter der Digitalisierung ist das Zeitalter der Netzwerke.

Im Zeitalter der Digitalisierung interagieren nicht mehr nur die Institutionen untereinander, sondern erstmals auch Individuen in sogenannten sozialen Netzwerken. Während es in der Ära der Typografie aufwändig war, als Einzelstimme zu publizieren und gehört zu werden, ist das in sozialen Netzwerken zumindest technisch ganz einfach - aber nicht voraussetzunglos.

Prinzipiell kann jeder Mensch nicht nur konsumieren, sondern auch eigene Inhalte publizieren. Axel Bruns 1) prägte bereits 2009 dafür den Begriff des „Produtzers“:

Symbolische Darstellung des Produtzerprozesses nach Axel Bruns

Das klingt auf den ersten Blick nach unglaublichen Freiheiten und neuen Möglichkeiten. Greta Thunberg und die fridays4future-Bewegung nutzen soziale Netzwerke meisterlich, um ihre Inhalte zu setzen und damit politische Diskurse in ganzen Ländern zu bestimmen.

Spannend ist, wie diese neuen Möglichkeiten auf Kultur und Gesellschaft auswirken können und wie etablierte Mechanismen aus anderen „Leitmedienzeiten“ dabei ineinandergreifen.

Der YouTuber Rezo veröffentlichte Mitte Mai 2019 ein Video namens „Die Zerstörung der CDU“ (Mittlerweile 16 Millionen Klicks), in dem er mit der Politik der Volksparteien abrechnete.

In der Folge ging ein politischer Ruck durch die Bundesrepublik Deutschland: Die Volksparteien CDU und SPD musste in Wahlen erdrutschartige Verluste hinnehmen. Markus Beckedahl schrieb über ein älteres Video Rezos:

Für ältere Semester ist der Präsentationsstil sicherlich gewöhnungsbedürftig, aber inhaltlich ist das richtig guter, bissiger, junger Journalismus mit Haltung. Auf den Punkt. Mit valider Medienkritik. Und Humor. Das macht Spaß – und ist überaus kritisch. 2)

Auffällig ist das Wort Journalismus. Rezo ist ein sogenannter Influencer auf Youtube, kein gelernter Journalist. Im Zeitalter der Typografie funktionierte Journalismus anders: Inhalte wurden von Journalisten recherchiert, redaktionell gefiltert, um dann über Print- oder audiovisuelle Medien in die Öffentlichkeit gebracht zu werden. Rezo als Produtzer hat es ohne diese etablierte Struktur in die Öffentlichkeit geschafft und Konsequenzen ausgelöst, von denen viele etablierte Journalisten bisher nur träumen konnten. Spannend ist weiter, dass traditionelle Publikationsmedien wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk oder überregionale Zeitungen erheblich zur Popularität von Rezos Video beigetragen haben dürfen - allein durch die bloße Berichterstattung wurde auch Bevölkerungsteile erreicht, die weniger netzaffin sind.

Rezo und Greta Thunberg gelten in der Digitalszene als Lichtgestalten dafür, wie sich Machtverhältnisse durch die Möglichkeiten der Vernetzung verschieben können - wie hier z.B. Jugend eine Stimme erhält.

Diese emanzipatorische Kraft hat das Leitmedium „Digitalität“ scheinbar in erheblich kürzerer Zeit erreicht als das Leitmedium „Buch“. Leider ist das nicht ganz so einfach und bringt auch Probleme mit sich. Eine gewichtiges Problem sehe ich darin, dass emanzipatorische Bestrebungen und Kontrollverlust von etablierten Institutionen historisch betrachtet nie einfach hingenommen wurden, die mit dem Internet jetzt eine Vielzahl neuer Instrumentarien zur Verfügung haben. Im nächsten Kapitel über die Geschichte des Internets werden Sie mehr darüber erfahren, welche Mechanismen das genau sind und nach welcher Logik sie funktionieren.

Das Überangebot an Informationen im Netz überfordert Individuen zunehmend. Das Netz bietet auch Kräften Raum, die destruktiv-bewahrend agieren - das zeigt z.B. die Sichtbarkeit und netzpolitische Arbeit der Rechtspopulisten weltweit beeindruckend. Durch die staatenübergreifenden Vernetzung, wird es komplexer, gesetzgeberisch einzugreifen und zu regulieren. Die normative Steuerung des Netzes liegt nicht mehr ausschließlich in staatlicher Hand.

Die Anforderungen, sich in dieser Welt der Digitalität souverän zu bewegen, halte ich für hoch. Einige dieser Fähigkeiten habe ich im Folgenden zusammengetragen:

  • gesellschaftlich-kulturelle Aspekte abstrahieren
  • vernetztes Denken und Handeln
  • eigene Filterstrategien weiterentwickeln und reflektieren
  • kritisches Denken auf unterschiedlichen Ebenen (technisch, sachlich, gesellschaftlich)

Nach jedem Leitmedienwechsel habe ich formuliert, was aus meiner Sicht an Kompetenzen zusätzlich mit dazukommt. Wenn man sich sich die Kompetenzen inhaltlich anschaut, ist dabei durch die Zeit ein erheblich höherer Anspruch und eine erheblich höhere Komplexität erkennbar.

1)
Bruns, Axel (2009) Produtzung : Von medialer zu politischer Partizipation. In Bieber, Christoph, Eifert, Martin, Groß, Thomas, Lamla, Jörn (Eds.) Soziale Netze in der digitalen Welt: Das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht. Campus Verlag, Frankfurt, pp. 65-86.